* 22 *
Am nächsten Morgen im Wald standen Nicko und Septimus zu Füßen Großvater Bennys. Die helle Sommersonne, die durch seine Blätter schien, warf ein hellgrünes Licht auf den Waldboden. Und auf die traurigen Überreste von Septimus’ Rucksack.
»Meine gesamte Ausrüstung ist futsch«, klagte Septimus. »Sie haben alles gefressen.«
»Alles bis auf uns«, betonte Nicko, »und das ist wahrscheinlich das Wichtigste.«
Septimus hörte nicht hin. Er kroch auf allen vieren um den Baum herum und suchte den Boden ab.
»Ich würde mit den Händen nicht so im Laub wühlen«, sagte Nicko und verzog das Gesicht.
»Wieso denn nicht? Ich suche etwas.«
»Überleg doch mal, Sep. Jede Menge Wolverinen, die hier herumlungern und auf ihr Abendessen warten. Sie sind aufgeregt. Fressen Knallpfefferminz. Was glaubst du, was sie dann tun?«
»Hier muss er sein. Den können sie unmöglich gefressen haben ... Keine Ahnung, Nicko, was denn?«
»Sie kacken.«
»Iiiih!« Septimus sprang auf.
»Und dann scharren sie es mit Laub zu.«
»Pfui Teufel, nein!« Septimus wischte sich die Hände an seinem Kittel ab, wich einen Schritt zurück und trat auf den Gegenstand, den er gesucht hatte. »Ich hab ihn! Hier ist er. Fantastisch!«
»Was?«, fragte Nicko neugierig. »Was ist denn so wichtig?«
Septimus hielt den schillernden grünen Stein in der Hand, den er so sorgsam in seinem Rucksack verstaut hatte.
»Ach so«, sagte Nicko, dem wieder einfiel, warum sie mitten im Wald waren. »Verstehe.«
»Jenna hat ihn mir geschenkt.«
»Ich weiß. Ich erinnere mich.«
Sie schwiegen eine Weile, und Septimus betrachtete den Stein. Dann platzte er plötzlich heraus: »Wie ich die Wolverinen hasse! Sieh dir an, was sie getan haben. Sie haben ihn zerbrochen.«
Er wiegte den Stein in den Händen und hielt ihn Nicko hin. »Hier«, sagte er. An der dicksten Stelle hatte der Stein einen dünnen Riss.
»Es hätte schlimmer kommen können, Sep«, tröstete ihn Nicko. »Er ist nicht zerbrochen. Wahrscheinlich hat eine Wolverine drauf gebissen. Ich wette, ihren Zähnen hat das nicht besonders gut getan.«
»Wollen es hoffen«, sagte Septimus. »Hoffentlich fallen sie ihr alle aus.« Er steckte den Stein in den Beutel, der an seinem Lehrlingsgürtel hin.
Es dauerte eine Weile, bis sie von ihrem Großvater Abschied genommen und ihm hoch und heilig versprochen hatten, demnächst mit dem Rest der Familie wiederzukommen. Dann endlich konnten sie weiterziehen und die Suche nach dem Lager der Brüder fortsetzen.
Einige Zeit später, als Septimus der Knöchel zu schmerzen begann und er sich schon fragte, ob sie sich abermals verlaufen hatten, stießen sie auf einen breiten Pfad.
»Jetzt weiß ich, wo wir sind!«, rief Nicko triumphierend.
»Bestimmt?«, fragte Septimus mit einem gewissen Zweifel in der Stimme.
»Ganz bestimmt. Folge mir einfach, Sep.«
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor«, erwiderte Septimus.
»Sei nicht gemein«, sagte Nicko verlegen. »Schau, da unten, kannst du das Lager sehen?«
Sie standen auf einer kleinen Erhebung. Der Weg führte vor ihnen bergab und wand sich zwischen Bäumen hindurch auf eine kleine Lichtung. Eine dünne Rauchsäule stieg in die ruhige Morgenluft, und gerade als Septimus hinsah, trat eine schlaksige Gestalt aus einer Behausung, die wie ein großer Laubhaufen aussah, streckte sich in der warmen Sonne und gähnte.
»Erik!«, rief Nicko. »He, Erik!«
Die Gestalt sah mit verschlafenen Augen herüber.
»Los, Sep«, sagte Nicko. »Es wird Zeit, dass du den Rest von uns kennen lernst.«
Zehn Minuten später saß Septimus allein am Lagerfeuer. Kaum hatte Nicko ihn mit der Miene eines Zauberers, der ein Kaninchen aus dem Hut zaubert, Sam, Jo-Jo, Edd und Erik vorgestellt, waren alle vier verschwunden und hatten Nicko mitgenommen. Sie hatten gesagt, dass sie nach den Netzen sehen wollten, die Sam im Fluss ausgelegt hatte, um Fische zu fangen, die mit der Morgenflut kamen. Und dass er, Septimus, sich nützlich machen und solange das Feuer hüten solle, das sie Tag und Nacht am Brennen hielten.
Jetzt stierte Septimus in die Flammen und fragte sich, ob alle Familientreffen so waren. Er hatte der Begegnung mit seinen übrigen Brüdern zwar mit Herzklopfen entgegengefiebert, aber doch erwartet, dass sie sich freuen würden, ihn kennen zu lernen. Aber sie hatten ihn nur angeglotzt wie einen Frosch im Glas. Bis ihm irgendwann klar geworden war, dass sie gar nicht ihn anstarrten, sondern seine schmucke grüne Lehrlingstracht und seinen silbernen Gürtel, der richtig peinlich in der Sonne glitzerte, so dass er sich wie ein Angeber vorkam. Er raffte schnell den Umhang nach oben, um den Gürtel zu verbergen, aber das wirkte wahrscheinlich noch blöder – als lege er gesteigerten Wert auf sein Aussehen. Oder als sei er eine verfrorene Memme ... oder ein Angsthase ... Und dann, als er so dastand, in den Umhang gewickelt, hatten seine Brüder einer nach dem anderen ein Grunzen von sich gegeben, das wie ein »Hallo« klang, genauso gut aber auch ein »Blödian« hätte gewesen sein können. Und je länger er jetzt darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass sie nicht »Hallo« gesagt hatten. Er stützte den Kopf in die Hände. Seine Brüder mussten ihn für einen Vollidioten halten.
Während er so dasaß, in die Flammen stierte und sich fragte, wieso er Nicko hierher gefolgt war, obwohl er eigentlich Jenna suchen sollte, spürte er, dass er Gesellschaft bekam. Er drehte sich um und erblickte einen seiner Brüder ... Aber welcher war es? Vor lauter Verlegenheit hatte er sich nicht gemerkt, wer wer war.
»Hi«, grüßte der Junge und schürte das Feuer mit einem Stock.
»Hi«, erwiderte Septimus und wünschte sich, er hätte auch einen Stock.
»Bist du der, der früher tot war?«, fragte der Bruder.
»Was?«
»Tot. Ich weiß noch, wie unsere Eltern manchmal über dich geredet haben, wenn sie dachten, wir könnten sie nicht hören. Du warst tot. Aber du warst es gar nicht. Komisch.« Er stocherte weiter im Feuer.
»Ja, komisch«, pflichtete Septimus ihm bei und warf einen verstohlenen Seitenblick auf den anderen. Sam war es nicht, so viel stand fest. Sam war nur wenig jünger als Simon und fast schon ein Mann, mit Bartflaum und tiefer Stimme. Und Edd und Erik, so glaubte er sich zu erinnern, trugen ihr Haar in langen verfilzten Strähnen, die wie Seile gedreht waren. Folglich konnte es nur Jo-Jo sein. Er war etwas älter als Nicko und auch etwas größer, aber schmächtiger, und seine verfilzten strohblonden Locken wurden von einem Band zusammengehalten, das aus verschiedenfarbigen Lederstreifen geflochten war. Der andere fing seinen Blick auf.
»Ich bin Jo-Jo«, sagte er grinsend.
»Hallo«, sagte Septimus, hob einen in der Nähe liegenden Stock auf und stocherte damit im Feuer.
Jo-Jo stand auf und streckte sich. »Du passt aufs Feuer auf, und ich gehe Fische putzen. Sam hat letzte Nacht einen guten Fang gemacht. Und Marissa hat uns heute Morgen Brot gebracht.«
»Marissa?«, fragte Septimus.
»Das ist eine von den Wendrons. Du weißt schon, die Wendronhexen. Sie hat mir das hier gemacht.« Er tippte stolz auf sein Lederstirnband.
Einige Zeit später saß Septimus am Feuer und hielt einen Fisch, der auf einen Stock gespießt war, über die niedrigen Flammen. Das Feuer zischte und prasselte, während der Fisch briet. Sam zerlegte jeden fertigen Fisch in sechs Portionen und verteilte sie mit einem Stück von Marissas Brot an die Jungs. Es war das Beste, was Septimus jemals gegessen hatte. Als sie gemütlich dasaßen und schweigend aßen, fiel die Anspannung endlich von ihm ab, und er genoss die Gesellschaft seiner Brüder. Bis auf Jo-Jo hatte noch keiner ein Wort mit ihm gewechselt, aber sie hatten ihm eine Aufgabe zugeteilt – wie es aussah, war er heute der Koch. Wenn ein Fisch verzehrt war, gab ihm Sam den nächsten zum Braten, und bald hatte er das Gefühl, er hätte sein Leben lang mit seinen Brüdern am Lagerfeuer gesessen und Fische gebraten. Alles wäre perfekt gewesen, hätte nicht die Sorge um Jenna an ihm genagt.
Irgendwann war auch der letzte Fisch verdrückt, und Nicko erzählte den anderen die Sache mit Jenna und Simon.
»Simon, und Jenna entführt?«, sagte Sam. »Das glaube ich nicht. Nur weil er nicht Lehrling geworden ist und sich bei Tante Zelda deswegen mit Dad gestritten hat ...? Deshalb soll er plötzlich ein Strolch geworden sein? Also, ich weiß nicht.«
»Genau«, stimmten Edd und Erik zu.
»Obwohl er wirklich gern ein richtiger Lehrling geworden wäre, stimmt’s?«, sagte Edd nach ein paar Minuten Nachdenken.
»Ja«, bestätigte Erik. »Er hat die ganze Zeit von nichts anderem geredet. Das war ganz schön öde.«
»Einmal«, sagte Jo-Jo, »hat er sogar behauptet, Marcia Overstrand hätte nur deshalb noch keinen Lehrling, weil sie auf ihn wartet. Du spinnst doch, hab ich zu ihm gesagt. Da hat er mir einen Tritt gegeben.«
»Aber er hat Jenna immer bei den Schulaufgaben geholfen«, gab Sam zu bedenken. »Überhaupt war er zu ihr viel netter als zu irgendeinem von uns. Wieso sollte er sie jetzt plötzlich entführen? Das ergibt doch keinen Sinn.«
Keiner wollte glauben, dass Simon Jenna entführt hatte, und Nicko war darüber genauso enttäuscht, wie Septimus es gewesen war.
Schweigen trat ein, und alle sechs Brüder stierten missmutig ins Feuer, in dessen Asche Fischgräten verstreut lagen. Bald hielt es Septimus nicht mehr aus. »Wo ist Wolfsjunge?«, fragte er.
»Schläft noch«, antwortete Jo-Jo. »Der wacht nicht vor Einbruch der Dunkelheit auf. Wie die Wolverinen.«
»Ich muss mit ihm reden«, beharrte Septimus.
Jo-Jo schnaubte. »Er wird dir aber keine Antwort geben. Er spricht nämlich kein Wort. Worüber willst du denn mit ihm reden?«
»Wir brauchen seine Hilfe«, mischte sich Nicko ein. »Ich habe Sep gesagt, dass er Jenna aufspüren kann.«
»Seine Biege ist die da drüben.« Jo-Jo deutete auf ein großes aufgeschüttetes Ding.
»Komm, Sep, wecken wir ihn«, sagte Nicko und stand vom Feuer auf. »Die Sache ist nämlich die«, fuhr er leise fort, als sie zu Wolfsjunges Biege hinübergingen. »Sam und die anderen lassen es etwas langsamer angehen, seit sie hier leben. Sie reden nicht viel, so wie im Wald eben üblich, und sie überstürzen nichts. Was da draußen in der Welt vorgeht, kümmert sie wenig. Sie sind mittlerweile fast wie richtige Waldbewohner. Wenn du also etwas willst, wie zum Beispiel mit Wolfsjunge reden, musst du es selber in die Hand nehmen.«
Septimus nickte. Wie Nicko war er das Leben in der Burg gewöhnt, wo man seine Arbeit zu erledigen hatte und von Menschen umgeben war, die von einem erwarteten, dass man sie erledigte. Im Wald zu leben, so dachte er, würde mich verrückt machen.
Sie gingen über die Lichtung, während ihre Brüder faul liegen blieben, Stöckchen und Blätter ins Feuer warfen und zusahen, wie die Flammen kurz aufloderten. Das Lager war nicht sehr groß. Es bestand aus vier primitiven Hütten mit einer Feuerstelle in der Mitte. Die Hütten, die Sam und die anderen Biegen nannten, waren aus langen dünnen Weidenstöcken errichtet, die sie am Fluss geschnitten, dann zu Toren gebogen und mit beiden Enden in die Erde gesteckt hatten. Sobald die Weidenstöcke in der Erde waren, trieben sie neue Wurzeln und im Frühjahr Blätter. Zusätzlich hatten die Brüder Zweige, lange Gräser und alles, was sich sonst noch finden ließ, zwischen die Stöcke geflochten. Als Schlafstellen in den Biegen dienten ihnen dicke Laubhaufen, über die sie grob gewobene Decken breiteten. Die Decken hatten sie bei der Errichtung des Lagers von der Medizinfrau Galen bekommen, Sarah Heaps ehemaliger Lehrerin, die ganz in der Nähe in einem Baumhaus wohnte. Sie wurden inzwischen durch verschiedene Felle und bunte weiche Decken ergänzt, die junge Wendronhexen aus der Gegend für sie angefertigt hatten.
Sams Biege war die geräumigste und stabilste. Edd und Erik teilten sich ein großes windschiefes Exemplar, und Jo-Jo hatte eine Art schmuckes Tipi, das mit hübsch geflochtenen Gräsern bedeckt war. Marissa hatte ihm beim Bauen geholfen.
Wolfsjunges Biege sah wie ein Laubhaufen aus. Sie stand ganz am Rand des Lagers zum Wald hin. Nicko und Septimus hatten sie auf der Suche nach dem Eingang bereits zweimal umkreist, als Septimus plötzlich ein hellbraunes Augenpaar bemerkte, das ihn zwischen den Blättern hervor anstarrte.
»Oh!«, entfuhr es ihm, und ein seltsamer Schauder überkam ihn.
»He, Sep«, lachte Nicko, »man könnte meinen, du hättest einen Geist gesehen. Das ist doch nur Wolfsjunge. So ist das immer mit ihm. Er sieht dich immer zuerst. Wahrscheinlich beobachtet er uns, seit wir hier sind.«
Septimus war ganz blass. Sein Herz pochte. Wolfsjunges starrer Blick hatte ihm beinahe einen ebenso großen Schrecken eingejagt wie die Wolverinen letzte Nacht.
»Ja«, erwiderte er einsilbig wie ein typischer Waldbewohner.
Plötzlich ging ein Ruck durch den Laubhaufen, und heraus trat eine kleine drahtige Gestalt, die über und über mit Schmutz und Zweigen bedeckt war. Angespannt wie ein Wettläufer vor dem Start stand Wolfsjunge da und blickte in die Runde. Nicko und Septimus wichen unwillkürlich ein paar Schritte zurück.
»Schau ihm nicht direkt in die Augen«, raunte Nicko ihm zu. »Jedenfalls fürs Erste. Das macht ihm Angst.«
Septimus konnte es sich nicht verkneifen, ihn verstohlen zu betrachten, und zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass Wolfsjunge mehr wie ein Junge als wie ein Wolf aussah. Und er roch auch gar nicht so übel, mehr nach feuchter Erde als nach Wolverine. Wolfsjunge war eindeutig ein Mensch. Er trug einen kurzen Kittel von unbestimmbarer Farbe, der an der Taille mit einem alten Ledergürtel zusammengebunden war, und hatte langes braunes Haar, das wie bei allen Waldbewohnern verfilzt war. Nachdem er die Umgebung abgesucht hatte, richtete er seine hellbraunen Augen auf Nicko und Septimus, ganz besonders auf Septimus, den er verwundert von oben bis unten musterte. Wieder wurde Septimus wegen seiner feinen Kleider verlegen, und nicht zum ersten Mal bedauerte er, dass er sich nicht im Schlamm gewälzt hatte, bevor er ins Lager der Heaps gekommen war.
»Hi«, grüßte Nicko nach einer Weile. »Alles in Ordnung?«
Wolfsjunge nickte, starrte aber weiter Septimus an.
»Wir wollten dich um deine Hilfe bitten«, fuhr Nicko mit ruhiger bedächtiger Stimme fort.
Endlich wandte sich Wolfsjunge von Septimus ab und sah Nicko ernst an.
»Wir brauchen deine Hilfe, um jemanden zu finden. Ein Mädchen, das verschleppt worden ist.«
Wolfsjunge blieb ungerührt.
»Hast du verstanden?«, fragte Nicko. »Es ist wirklich wichtig. Es handelt sich um unsere Schwester. Sie ist entführt worden.«
Wolfsjunges Augen weiteten sich kurz vor Überraschung. Und jetzt war es an Nicko und Septimus, ihr Gegenüber anzustarren.
Sie warteten auf eine Antwort.
Dann endlich kam sie. Langsam, ganz langsam nickte Wolfsjunge.